Der optimierte Verkehrsstau oder das Paradox von Braess

Christoph Pöppe

Wenn jeder Autofahrer den für ihn selbst günstigsten Weg wählt, dann müsste doch eigentlich eine für alle Fahrer optimale Lösung herauskommen – sollte man denken. Aber das stimmt nicht.

 

Dieses Bild zeigt ein stark vereinfachtes, aber nicht unrealistisches Straßennetz. A, B, C und D können Städte sein oder auch nur Punkte, an denen mehrere Straßen abzweigen. Wer mit dem Auto von A nach D fahren will, kann entweder den Weg über B oder den über C nehmen. Beide sind im Prinzip gleichwertig; es kommt nur darauf an, mit wie vielen Autos man sich die Straße teilen muss. Die „waagerechten“ Straßen AB und CD sind kurz, aber sehr eng. Ein Auto, das allein dort unterwegs ist, durchmisst sie in zehn Minuten, aber jedes weitere Auto, das zugleich die Straße befährt, verursacht einen Zeitverlust von ebenfalls zehn Minuten, mit dem Effekt, dass die gesamte Fahrzeit über ein waagerechtes Teilstück 10 f Minuten beträgt, wobei f die Anzahl der Fahrzeuge ist. Dagegen sind die „senkrechten“ Strecken zwar lang, aber gut ausgebaut, so dass jedes zusätzliche Auto den Verkehrsfluss nur um eine Minute verzögert.

Die Leute müssen täglich von A nach D zur Arbeit und haben deswegen ausreichend Gelegenheit auszuprobieren, welcher Weg sie die geringste Zeit kostet. Auf die Dauer hat sich der Brauch etabliert, dass von den sechs Fahrern genau die Hälfte (die „Blauen“) den Weg über B und die andere Hälfte (die „Roten“) den über C wählt. (In der Realität müsste eher von Kilo-Autos – Tausenden von Autos – als von Einzelautos die Rede sein; aber auf die Wahl der Einheiten kommt es hier nicht an.) Und dieses Arrangement ist stabil! Sollte es zum Beispiel einem Blauen einfallen, zur Abwechslung über C zu fahren, wäre er statt bisher 83 Minuten 94 Minuten unterwegs. Nebenher würde er seinen blauen Kollegen 11 Minuten Zeitgewinn und den roten einen ebensolchen Zeitverlust einbringen; aber gehen wir davon aus, dass die Leute nicht miteinander reden und sich vor allem nicht um die Wirkung ihres Handelns auf andere scheren. Jedenfalls würde der aufmüpfige Blaue alsbald aus Eigeninteresse zum alten Weg zurückkehren, noch bevor die anderen Gelegenheit haben, sich auf die veränderte Situation einzustellen.

Jetzt wird eine Autobahn von B nach C eröffnet. Auf ihr braucht man nur noch zehn Minuten, plus eine Minute für jedes Fahrzeug, was bei dem Zeitgewinn gegenüber den alten senkrechten Strecken nicht sonderlich ins Gewicht fällt.

Kaum ist die Autobahn freigegeben, da entdeckt ein Blauer, dass er mit dem Schlenker über C volle zwei Minuten einsparen kann: Statt 30 + 53 = 83 Minuten braucht er nur noch 30 + 11 + 40 = 81 Minuten. Nebeneffekt dieser Aktion ist, dass die Roten jetzt 93 statt 83 Minuten brauchen. Da sieht ein Roter Optimierungsmöglichkeiten, wechselt ebenfalls auf den Fahrweg ABCD und holt damit aus seiner Situation immerhin noch eine Minute heraus.

 

Damit ist das perfekte Gleichgewicht wiederhergestellt: Jeder Fahrer braucht auf seinem Weg genau 92 Minuten, und jeder kann sich durch die Wahl eines anderen Weges nur verschlechtern. Aber o weh! Allen Beteiligten geht es neun Minuten schlechter als zuvor.

Dieses Problem heißt Braess-Paradox nach dem Numeriker Dietrich Braess, der es 1968 während seiner Zeit in Münster (Westfalen) ausarbeitete; später war er bis zu seinem Ruhestand 2003 Professor an der Universität Bochum.

Was wir hier sehen, ist die heimtückische Eigenschaft jenes Zustandes, den man als Nash-Gleichgewicht bezeichnet und der auch beim Gefangenendilemma die Beteiligten in Konflikte stürzt. Das Nash-Gleichgewicht ist stabil, weil jeder Beteiligte sich durch einseitiges Abweichen nur verschlechtern kann. Und kooperatives Handeln kommt nicht in Frage, weil nach Voraussetzung die Autofahrer beziehungsweise die Gefangenen nicht miteinander reden. Wenn sie es täten, könnten sie sich natürlich darauf einigen, die Autobahn nicht zu benutzen; aber eine solche Vereinbarung wäre stets gefährdet, weil jeder durch Brechen der Vereinbarung einen Vorteil für sich herausholen könnte.

Die gute Lösung des Problems ist geeignet, jedem Neoliberalen Tränen des Zorns ins Gesicht zu treiben: Die weise Obrigkeit, sagen wir in diesem Fall die Verkehrsbehörde, sperrt die Autobahn – oder baut sie gar nicht erst –, und alle sind glücklicher als zuvor. Damit ist das Braess-Paradox ein schlagendes Beispiel dafür, dass ein globales Optimum sich eben nicht immer dann einstellt, wenn jeder der Beteiligten für sich ein („lokales“) Optimum anstrebt.

Die beschriebene Situation ist übrigens längst nicht so exotisch, wie sie auf den ersten Blick aussieht. Inzwischen gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass das Braess-Paradox in der Realität auftritt. Da wird eine Straße – zum Beispiel für Bauarbeiten – gesperrt, und der Verkehr in ihrer Umgebung fließt besser als zuvor (siehe die Liste im Wikipedia-Artikel zum Thema).

Dasselbe Paradox in der klassischen Mechanik

So wie ich das Braess-Paradox hier beschrieben habe, gehört es zur Spieltheorie und hängt damit entscheidend an dem Bestreben der Beteiligten, ihre jeweils eigene Situation zu verbessern. Die nächste Überraschung ist: Irgendwelche bewussten Absichten sind gar nicht nötig. Es genügt das „Bestreben“ jedes physikalischen Objekts, den Zustand geringster Energie einzunehmen. Und bekanntlich reden die Physiker gerne – und für das Verständnis hilfreich – von solchen Bestrebungen. Ein Gewicht, das an einer Schraubenfeder hängt, möchte gerne einen möglichst tiefen Punkt einnehmen, nur gehindert durch das Bestreben der Feder, sich bis zum entspannten Zustand zusammenzuziehen.

Das linke Teilbild zeigt folgende Situation: Ein Gewicht hängt an zwei Schraubenfedern, die ihrerseits durch ein kurzes Stück Schnur verbunden sind. Zusätzlich sind Sicherheitsleinen angebracht, die für den Fall, dass die Schnur reißt, den Fall des Gewichts ins Bodenlose verhindern sollen. Gegenwärtig hängen sie noch schlaff herunter.

Schneidet man jetzt die Schnur entzwei, so verschafft man dem Gesamtsystem dadurch mehr Freiheiten, als es vorher hatte, ebenso wie der Bau der Autobahn. Die sollte das Gewicht nutzen, seinem Bestreben folgend noch etwas tiefer zu sinken. Aber Überraschung (rechtes Teilbild): Das Gewicht wandert nach oben!

Als ich das vor knapp 30 Jahren las, musste ich es auch erstmal ausprobieren. Die als Spielzeug erhältlichen Schraubenfedern, damals noch aus Metall, leisteten dabei nützliche Dienste. Und wahrhaftig: Sowie die Schnur durchschnitten wird, wandert das Gewicht nach oben, und zwar sofort, ohne auch nur ein bisschen abzutauchen.

Man kann die Energiebilanz der beiden Szenarien durchrechnen und bestätigen, dass das alles seine Richtigkeit hat. Es stellt sich heraus, dass die Gesamtenergie neu verteilt wird: Die beiden Federn nutzen die Gelegenheit, sich zu entspannen, und drücken dadurch dem Gewicht eine potenzielle Energie auf, die es vorher nicht hatte.

Warum kommt einem das trotzdem so seltsam vor? Eine mögliche Erklärung lautet: Wenn an dem ganzen System nur Schraubenfedern beteiligt wären, dann wäre das nicht passiert. Die sind nämlich linear: Kraft ist proportional der Auslenkung (Hooke’sches Gesetz), und zwar zumindest theoretisch auch dann, wenn die Feder über ihren Gleichgewichtszustand hinaus zusammengedrückt wird. Das problematische Element ist die Schnur. Die Kraft, die sie ausübt, ist null im schlaffen und proportional der Zugkraft im gespannten Zustand. Man darf sie in diesem Fall als eine extrem stramme Hooke’sche Feder auffassen.

Dasselbe Paradox gibt es übrigens auch in elektrisch statt mechanisch. An die Stelle der Schnur tritt hier eine so genannte Zener-Diode. Die sperrt den Strom in der einen Richtung und wirkt wie ein gewöhnlicher Widerstand in der anderen. Und da gibt es tatsächlich Stromkreise, bei denen der Strom abnimmt (also der effektive Widerstand zunimmt), wenn eine zusätzliche Leitung freigeschaltet wird.

Welche Weisheit kann man aus diesen verschiedenen Paradoxa ziehen? Vielleicht zwei. Erstens: Wir sind viel zu sehr lineare Systeme gewohnt. Es sind ja auch die theoretisch einfachsten. Irgendeine Nichtlinearität in dem System ist häufig für eine Überraschung gut. Und zweitens: Ein nichtlineares Element ist nicht immer etwas Kompliziertes. Eine simple Schnur ist sozusagen viel nichtlinearer als eine aufwendig hergestellte Schraubenfeder.

Neuerdings haben Kimmo Eriksson und Jonas Eliasson („The Chicken Braess Paradox“, Mathematics Magazine 92:3, S. 213–221, 2019) das originale Braess-Paradox mit dem Straßenverkehr erheblich erweitert. Da gibt es eine Verbindungsstraße, die zu befahren in beiden Richtungen auf dem Weg zum Ziel sinnvoll ist. Aber sie ist so eng, dass man sich an zahlreichen Stellen mit dem Gegenverkehr arrangieren muss, was richtig Zeit kostet. Also ist es rational für jeden der Beteiligten, die Straße zu meiden, sowie auch nur ein Auto in der Gegenrichtung auf ihr unterwegs ist.

Und was passiert, wenn zwei Autos gleichzeitig an entgegengesetzten Enden dieser Straße auftauchen? Dann haben wir eine Situation, die in der Spieltheorie als „Chicken game“ („Feiglingsspiel“) bekannt und berüchtigt ist. In der Standarddarstellung rasen zwei Autos frontal aufeinander zu; wer zuerst ausweicht, hat verloren. Offensichtlich gewinnt dabei derjenige, der glaubwürdig den Eindruck vermittelt, sein eigenes Leben sei ihm nichts wert. Eine einst heiß diskutierte Version des Chicken game ist die Drohung mit dem totalen Atomschlag, mit der Gewißheit, dass die Gegenseite ebenso zerstörerisch zurückschlagen kann und wird („MAD“ wie „mutually assured destruction“).

Aber hier geht es ja nicht gleich um den Weltuntergang, sondern nur um den Straßenverkehr. Und für den finden Eriksson und Eliasson auch kooperativere Lösungen.

Über das originale Braess-Paradox und die mechanische sowie die elektrische Variante habe ich in Spektrum der Wissenschaft (November 1992, S. 23) einen Artikel geschrieben. Leider gibt es so alte Artikel nicht online (nicht einmal für Geld). Grundlage war eine Arbeit von Joel Cohen und Paul Horowitz in Nature 352, S. 699, 1991.

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