Die Mathematik der Demokratie
Christoph Pöppe
Eigentlich ist die Aufgabe klar. Die Zusammensetzung des Bundestages soll das Wahlergebnis getreu widerspiegeln. Die Anzahl der Abgeordneten jeder Partei soll proportional der Anzahl der für diese Partei abgegebenen Stimmen sein, eine Forderung, die in der Diskussion kurz als „Proporz“ bezeichnet wird. Dann liegt die Lösung auf der Hand: Man dividiert die Anzahl der abgegebenen Stimmen durch die Anzahl der Bundestagssitze und bekommt eine Zahl heraus, den „Divisor“, irgendetwas in der Größenordnung von 100000. So viele Stimmen muss eine Partei aufbringen, um einen Platz im Bundestag zu besetzen. Teile die Anzahl der für eine Partei abgegebenen Stimmen durch diesen Divisor und erhalte die Anzahl der Sitze für diese Partei. Das kann man im Prinzip mit den Rechenkenntnissen der vierten Klasse bewältigen; zur Not gibt’s den Taschenrechner.
Gemessen an der Einfachheit der Aufgabe ist die Lösung, die im Bundeswahlgesetz steht und damit insbesondere die Zusammensetzung des aktuellen Bundestags bestimmt, erschreckend kompliziert. Woran liegt das?
Der erste Grund ist noch vergleichsweise harmlos. Beim Dividieren kommen in aller Regel krumme Zahlen heraus. Da es aber keine halben Abgeordneten gibt, muss das Ergebnis der Division auf ganze Zahlen gerundet werden. Eigentlich kein großes Ding – Bankmenschen und Kaufleute tun das den ganzen Tag, ohne dass es ernsthafte Unstimmigkeiten gibt –; aber selbst in der relativ kurzen Geschichte der Bundesrepublik hat es dafür drei verschiedene Verfahren gegeben. Das aktuelle Verfahren, das nach dem französischen Mathematiker André Sainte-Laguë (1882–1950) benannt ist, ist den beiden anderen (d’Hondt und Hare-Niemeyer) so überlegen, dass man sich ernsthaft fragt, wieso sich die Deutschen erst 2008 zu seiner Anwendung durchringen konnten.
Es gibt allerdings ein kleines Problem: Die vorläufigen Sitzzahlen, sprich die krummen Ergebnisse der Division, addieren sich zwar zur offiziellen Anzahl der Parlamentssitze, aber das gilt für die gerundeten nicht unbedingt. Wenn zum Beispiel von den vorläufigen Sitzzahlen mehr ab- als aufgerundet werden, sitzen hinterher zu wenig Leute im Bundestag. Das Problem hat eine elegante Lösung: Man wackelt ein bisschen an dem Divisor. Falls zum Beispiel insgesamt zu wenig Sitze herauskommen, macht man den Divisor etwas kleiner, daraufhin werden die vorläufigen Sitzzahlen etwas größer, und irgendwann wächst eine von ihnen, sagen wir, von 37,49 auf 37,52. Daraufhin bekommt die entsprechende Partei 38 statt 37 Sitze, und einer der bisher freien Plätze wird besetzt. Nach ein paar Versuchen findet man in jedem Fall einen „richtigen“ Divisor, das heißt einen, der die geforderte Anzahl an Sitzen erzeugt. Und selbst den kann man noch in gewissen Grenzen variieren: so weit, bis die nächste vorläufige Sitzzahl von Auf- nach Abrunden springt oder umgekehrt.
Nun haben wir aber auch noch die – vom Grundgesetz geheiligte – Aufteilung des Bundesgebiets in Länder, mit der Folge, dass man bei der Wahl seine Zweitstimme zwar de facto für eine Partei abgibt, offiziell aber für die „Landesliste“ einer Partei. Es wird auch nach Ländern getrennt ausgezählt, und der Proporz soll nicht nur bundesweit, sondern auch innerhalb jedes Bundeslands gelten.
Das Divisorverfahren bewältigt auch dieses Problem, allerdings um den Preis erhöhter Rechenarbeit. Wir haben eine Tabelle, eine Zeile für jedes Bundesland, eine Spalte für jede Partei, und in der Tabelle stehen die zugehörigen vorläufigen Sitzzahlen. Diese Werte sind auf ganze Zahlen zu runden, und zwar so, dass sowohl die Zeilensummen als auch die Spaltensummen vorgeschriebene Werte annehmen (jedem Bundesland stehen so viele Sitze zu, wie seiner Einwohnerzahl entspricht, und jeder Partei so viele, wie ihrer Gesamtstimmenzahl entspricht). Das gelingt, indem man für jede Zeile und jede Spalte einen „richtigen“ Divisor bestimmt und daraufhin jede Stimmenzahl sowohl durch den zugehörigen Zeilendivisor als auch durch ihren Spaltendivisor teilt. Der französische Wirtschaftswissenschaftler Michel Balinski hat diese Lösung gefunden, als er die verschiedenen Wahlgesetze Mexikos untersuchte. Der Versuch, offensichtliche Ungerechtigkeiten zu korrigieren, hatte dort ein jahrelanges Chaos ausgelöst.
Im März 2002 beanstandete ein Bürger der Stadt Zürich eine ähnliche Ungerechtigkeit. Bei der Wahl zum Stadtrat wurden die Sitze zwar proportional den Stimmenzahlen der Parteien vergeben; aber einzelne Stadtbezirke waren stark über-, andere entsprechend unterrepräsentiert. Das Schweizerische Bundesgericht gab der Beschwerde statt, und der Stadtrat war genötigt, neue Wahlvorschriften auszuarbeiten. Da konnten Balinski und sein Augsburger Kollege Friedrich Pukelsheim, der Balinskis Konzept weiterentwickelt hatte, einen geeigneten Vorschlag aus der Tasche ziehen. Am 12. Februar 2006 wurde der Zürcher Stadtrat erstmals nach dem „Neuen Zürcher Zuteilungsverfahren“ gewählt. Das Verfahren hat inzwischen Eingang in weitere Schweizer Gremien gefunden.
Und wie machen es die Deutschen? So ähnlich, aber noch viel komplizierter. Das deutsche Wahlgesetz muss nämlich zusätzlich noch das Problem mit der Erststimme regeln. Entgegen dem, was die Bezeichnung nahelegt, ist die Zweitstimme die wirklich bedeutende, weil sie über den Parteienproporz und damit über die Machtverhältnisse im Bundestag entscheidet. Mit der Erststimme wählt man zwar den lokalen Kandidaten seines Wahlkreises, von dem man vielleicht sogar einen persönlichen Eindruck hat. Aber im Endeffekt nimmt man damit allenfalls einen – begrenzten – Einfluss darauf, welcher unter mehreren Vertretern einer Partei ins Parlament einzieht. Dementsprechend ist das aktuelle Wahlgesetz so konstruiert, dass am Ende die Zusammensetzung des Bundestages dem Proporz entspricht.
Zunächst ziehen die Gewinner der Wahl in jedem der 299 Wahlkreise ins Parlament. Dann wird die zweite Hälfte des – theoretisch 598 Sitze umfassenden – Bundestages durch die Mitglieder der Landeslisten der Parteien aufgefüllt derart, dass insgesamt der Proporz erreicht ist. Wenn aber eine Partei mehr Erststimmensieger hat, als ihr nach dem Proporz zustehen, gibt es die so genannten Überhangmandate.
In den alten Zeiten, als die Parteienlandschaft noch übersichtlich war und Überhangmandate eine Seltenheit, hatte die entsprechende Partei eben mehr Abgeordnete, als dem Proporz entsprach, ohne dass das beanstandet wurde. Heute würde das zu großen Verzerrungen führen. Ein fiktives Rechenbeispiel: Ein Land X hat 100 Sitze im Parlament zu besetzen, 50 über die Erststimme und 50 über die Landeslisten. In jedem der 50 Wahlkreise gewinnt der Bewerber der Partei A mit jeweils 30 Prozent der Stimmen – nicht unplausibel, wenn vier oder mehr ernstzunehmende Parteien antreten. Dann bekommt Partei A die 50 Sitze ihrer Wahlkreissieger – wer wollte einem Menschen den Sitz wegnehmen, der in seinem Wahlkreis die meisten Stimmen errungen hat? Nach den Zweitstimmen stehen ihr aber nur 30 Sitze zu. Nach der alten Regel säßen dann 120 statt 100 Abgeordnete im Parlament, und die anderen Parteien hätten das Nachsehen.
Eine derartige Ungerechtigkeit hatte dann auch vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand. Darüber hinaus kommt es zu einem merkwürdigen Phänomen, dem „negativen Stimmgewicht“. Nehmen wir an, am Wahltag entschließen sich etliche Wähler, ihre Zweitstimme der Partei A zu geben, weil sie deren Ziele unterstützen. Dadurch wächst die Anzahl der Sitze, die A nach dem Proporz beanspruchen kann, und sie hat ein Überhangmandat weniger. Damit sitzen nur noch 119 statt 120 Leute im Parlament, und nach wie vor sind 70 von ihnen nicht von Partei A. Durch eine Stimme für A ist also A im Endeffekt geschwächt statt gestärkt worden – eine unmögliche Situation. Selbst wenn ich die Sache durchschaue, was im konkreten Fall nicht einfach ist: Wie soll ich wissen, welchen Effekt meine Stimme hat? Damit bin ich nicht in der Lage, durch meine Wahl das Ergebnis in meinem Sinne zu beeinflussen.
Das sah auch das Bundesverfassungsgericht so und erklärte das Wahlsystem im Juli 2008 für verfassungswidrig. Der Bundestag verabschiedete nach langen, mühsamen Beratungen ein Gesetz, das dem Problem des negativen Stimmgewichts abhelfen sollte – und fiel damit abermals beim Verfassungsgericht durch. Martin Fehndrich, Physiker aus Duisburg und einer der maßgeblichen Beschwerdeführer, erzählte mir, warum das Gesetzgebungsverfahren in dieser Sache so überaus zäh ablief. „Wenn ein neues Wahlsystem vorgeschlagen wird, rechnen die Vertreter jeder Partei erstmal durch, was dieses System, angewandt auf eine bereits stattgefundene Wahl, für Auswirkungen gehabt hätte. Einerlei wie das System im Einzelnen ausgestaltet ist, es gibt stets eine Partei, die dabei hinzugewonnen, und eine andere, die Sitze verloren hätte. Also gewinnt das System niemals die Zustimmung aller Parteien.“
Immerhin: Der dritte Versuch eines Bundeswahlgesetz aus dem Februar 2013 hatte Bestand und erfüllt zumindest die Forderung nach korrektem Proporz. Alle Erststimmensieger dürfen ihre Sitze behalten, und die Überhangmandate werden auch nicht über Ländergrenzen hinweg verrechnet. Allerdings zu einem heftigen Preis: Zur Wiederherstellung des Proporzes werden den Parteien, die bislang zu schlecht wegkommen, so genannte Ausgleichsmandate zugeteilt. Das können im Einzelfall ziemlich viele sein. Ein Rechenbeispiel: In unserem fiktiven 100-Sitze-Parlament hat eine Partei mit Mühe die Fünfprozenthürde überwunden, aber sechs Direktmandate erzielt. Damit sie wieder auf die ihr zustehenden fünf Prozent zurechtgestutzt wird, muss das Parlament durch Ausgleichsmandate auf 120 Sitze vergrößert werden. Ein Überhangmandat zieht also 19 Ausgleichsmandate nach sich. So erklärt sich auch, dass der gegenwärtige Bundestag 736 statt der eigentlich vorgesehenen 598 Abgeordneten zählt.
Das Rechenverfahren, das zur Erfüllung all dieser Forderungen angewandt wird, ist kompliziert. In einem ersten Schritt, der „Pseudoverteilung“, wird zunächst berechnet, wie viele Sitze einer Partei mindestens zustehen, einschließlich der Überhangmandate. Im zweiten Schritt („Oberverteilung”) setzt man den „Bundesdivisor“ so lange herab (und erhöht damit die Gesamtgröße des Parlaments), bis der Proporz auf Bundesebene hergestellt ist. So entstehen die Ausgleichsmandate. Zum Schluss („Unterverteilung“) werden die so gefundenen Sitzzahlen jeder Partei auf die Bundesländer verteilt. Jeder einzelne Schritt umfasst die Bestimmung zahlreicher (Partei-, Bundesland-, Bundes-)Divisoren mit anschließender Rundung nach dem Verfahren von Balinski und Pukelsheim.
Ich hatte mich in einem früheren Beitrag darüber ausgelassen, welche absurden sprachlichen Bocksprünge die Verfasser eines Gesetzes treiben, um einen mäßig schwierigen mathematischen Sachverhalt in Prosa zu fassen. Aber der Text zur Berechnung der Rentenformel wird mühelos in den Schatten gestellt von Paragraf 6 des Bundeswahlgesetzes! Martin Fehndrich schreibt am Ende seines Artikels zum Bundeswahlgesetz, der die Sache ausführlich darstellt: „Selbst die verantwortlichen Sachpolitiker geben der Hoffnung Ausdruck, dass wenigstens der Bundeswahlleiter [das Gesetz] verstanden habe.“
Immerhin: Die Mathematik hat dazu verholfen, hehre Ziele wie die Proportionalität und die Persönlichkeitswahl auf praktikable Weise in Einklang zu bringen. Wenn auch unter erheblichem Knirschen.
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