Kurt Lewin, Aristoteles und Galileo Galilei

Christoph Pöppe

Manchmal hat man den Eindruck, die Psycholog:innen blickten mit einer Mischung aus Sehnsucht und Minderwertigkeitskomplex zu den Kolleg:innen von der Physik hoch. Und derartige Gefühle wären ja ohne weiteres nachvollziehbar. Es wäre doch gut, wenn man das Seelenleben der Menschen und damit ihr Verhalten auf ein Zusammenspiel von psychischen Kräften zurückführen könnte, ebenso wie man in der Physik die Bahn eines Körpers aus den Kräften bestimmt, die zu jedem Zeitpunkt auf ihn einwirken. Und das mit der dort üblichen Präzision.

In der Physik tut es der Erkenntnis keinen Abbruch, wenn man die Kräfte nicht unmittelbar messen kann, sondern aus den Bewegungen der Objekte erschließen muss. Es müssen auch nicht unbedingt Kräfte sein, die man als Ursache der Bewegung ansieht. Eine Differentialgleichung wie die Schrödingergleichung in der Quantenmechanik tut es auch. Hauptsache, man kann aus dem Anfangszustand eines Systems dessen Verhalten in der Zukunft vorhersagen.

Übertragen auf die Psychologie würde das bedeuten: Man findet einen Menschen in einem gewissen seelischen Zustand vor und bestimmt aus diesen „Anfangswerten“, was er in der Zukunft tun wird. Wie diese Bestimmung bewerkstelligt wird, ist eine zweitrangige Frage. Eine mathematische Gleichung, deren Lösung man nur noch ausrechnen muss, wäre zweifellos willkommen. Wenn man dann noch dieser oder jener Größe in der Gleichung eine Bedeutung zuschreiben könnte, zum Beispiel „Antriebskraft“, oder sie mit der Konzentration eines Hormons in Beziehung setzen könnte, wäre es noch schöner.

Strebt die gegenwärtige Psychologie diesem Ideal nach? Theoretisch ja, praktisch sieht es eher nicht so aus. Interessanterweise hat bereits 1931 ein bedeutender Psychologie das Ideal ausgerufen und insbesondere beklagt, dass seine Zeitgenossen in unphysikalischen Vorstellungen verharrten. Es handelt sich um den deutschen Sozialpsychologen Kurt Lewin (1890–1947).

Obwohl Lewin zu den „einflussreichsten Pionieren der Psychologie“ zählt (so der Eintrag in Wikipedia), harren wesentliche Teile seines Werks noch der Aufarbeitung. Das liegt zum Teil daran, dass er vor 1933 auf Deutsch, danach auf Englisch publizierte (er hatte sich vor den Nazis, die er wegen seiner jüdischen Abstammung fürchten musste, beizeiten in die USA in Sicherheit gebracht) und zugleich mit seinem Arbeitsort auch sein Forschungsthema gewechselt hatte. Deswegen zerfällt sein Werk in einen deutschen und einen amerikanischen Teil, und es ist nicht einfach, die Teile zueinander in Beziehung zu setzen.

In seiner wissenschaftstheoretischen Schrift „Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie“ beklagt Lewin das Verharren seiner Zeitgenossen in überholten Denkschemata. So wie es aussieht, ist diese Klage in Teilen heute noch aktuell.

Für den antiken Philosophen Aristoteles wohnt den Dingen so etwas wie eine „angeborene Bestimmung“ inne. Zum Wesen eines Steins gehört es, auf der Erde zu liegen. Das tut er auch in regelhafter Weise, und wenn er doch einmal durch die Gegend fliegt, dann ist das eine Ausnahme von dieser Regel. Bei Aristoteles ist der Gegensatz von Regel und Ausnahme mit einer Wertung verbunden: Solange der Stein durch die Gegend fliegt, ist er falsch, unvollkommen, gesetzwidrig eben. Die vollkommene Bewegung – von der Ruhe abgesehen – ist die Kreisbahn, und die ist den Gestirnen vorbehalten. Irdische Bewegungen sind verglichen damit in einem gewissen Sinne minderwertig; auch hier nimmt Aristoteles Wertungen vor.

Galileo Galilei und in seinem Gefolge die gegenwärtigen Physiker können mit Vorstellungen von einer inneren Bestimmung oder intrinsischen Eigenschaften ihrer Gegenstände wenig anfangen. Das Wesen eines Steins besteht für sie im Wesentlichen aus seiner Masse, jedenfalls was seine Ruhe und Bewegung angeht. Für seine Bewegung gelten nicht nur Regeln, sondern Gesetze, ohne jede Ausnahme; insbesondere ist es kein Gesetzesverstoß, wenn ein Stein durch die Gegend fliegt. Und wenn der Stein ein ganzer Planet ist und damit für Aristoteles zur himmlischen Sphäre gehört, gelten für ihn immer noch dieselben Gesetze, auch wenn er nie zur Ruhe kommt, sondern eben kreisförmig durch die Gegend fliegt.

In der Tat finden sich in der klassischen Biologie Züge aristotelischen Denkens. Man pflegte die Lebewesen in einer wertenden Hierarchie anzuordnen, von den niederen Formen über die Pflanzen und Tiere, wohl unterscheidend zwischen niederen Affen und Menschenaffen, bis hin zur Krone der Schöpfung. Abweichungen von der Normgestalt galten immer wieder mal als minderwertig oder gar entartet. Und nicht nur in der Biologie, sondern auch in der Psychologie neigte man dazu, eine scharfe Trennlinie zwischen gesund und krank zu ziehen.

Stattdessen, so Lewin, sollte man es unternehmen, die Kräfte ausfindig zu machen, die das Verhalten der Menschen bestimmen – Kräfte selbstverständlich in einem übertragenen Sinn. Und das nach dem Vorbild Galileis durch Experimente. Also gilt es, Versuchspersonen verschiedenen Situationen auszusetzen, deren Verhalten zu beobachten und daraus mit mathematischen Mitteln Gesetzmäßigkeiten herzuleiten. Anscheinend hat er bereits damit seine Fachkollegen bis an ihre Grenzen gefordert; jedenfalls schreibt der Wikipedia Eintrag auch: „Lewin war ein harter Vertreter der experimentellen und der mathematischen Methode in der Psychologie, was zentrale Teile seines Werkes ungewöhnlich anspruchsvoll gestaltet.“

Hm. Das läuft auf die Auswertung der Experimente mit Hilfe mathematischer Modelle hinaus. Das kann ich Mathematiker nicht als übermäßig anspruchsvoll empfinden; aber vielleicht ist meine Sicht da, sagen wir, etwas einseitig.

Die Suche nach den Kräften jedenfalls gestaltet sich deutlich schwieriger als die entsprechende Aufgabe für Galilei. Nachdem der die Strecken gemessen hatte, die ein fallender Gegenstand in gleichen Zeitabständen zurücklegt, konnte er die Werte in ein Diagramm eintragen und erkennen, dass sie prima in eine quadratische Parabel passen. Damit war der erste Teil einer physikalischen Theorie bereits erledigt. Auf den zweiten Teil, das Gesetz „Kraft ist Masse mal Beschleunigung“ und eine Charakterisierung der Schwerkraft, musste die Welt noch einige Jahrzehnte warten, bis zu Newton. Aber fürs erste wären die Fachleute bereits glücklich mit dem ersten Teil, das heißt der Beschreibung der Experiment-Ergebnisse durch eine griffige Formel.

Eine solche ist jedoch in der Psychologie weit und breit nicht in Sicht. Und zwar schon, weil man das Verhalten der Versuchspersonen in der Regel nicht in Metern und Sekunden ausdrücken kann. Vielmehr äußert es sich in so schwer fassbaren Einheiten wie Grad der Zustimmung oder Ablehnung zu einer Behauptung. Oder die Versuchsperson gibt eine Antwort in gewöhnlicher Sprache, und die gilt es irgendwie sinnvoll zu quantifizieren – wenn das überhaupt möglich ist. Oder es ist eine schlichte Ja-Nein-Entscheidung. Oder der Experimentator notiert das Verhalten der Versuchsperson in gewöhnlicher Sprache.

Hat man also keine Formel, so muss man sich eine suchen. Hier kommt Ockhams Rasiermesser ins Spiel: Unter mehreren konkurrierenden Erklärungen für ein und dasselbe Phänomen ist die einfachste zu bevorzugen. Die Begründung für dieses Prinzip ist weniger tiefsinnig als vielmehr pragmatisch: Warum soll man sich mit komplizierten theoretischen Konstrukten herumschlagen, wenn es eine einfache Theorie auch tut? Es ist sinnvoll, dasselbe Prinzip nicht nur auf fertige Theorien anzuwenden, sondern auch auf solche, die es werden wollen.

Und damit landen wir bei der Faktorenanalyse, über die ich in meinen letzten Beiträgen geschrieben und über deren Missbrauch ich geschimpft habe. Nichts gegen die Faktorenanalyse als Mittel zur Datenreduktion. Aber als mathematisches Modell zeichnet sie sich unter ihresgleichen ausschließlich dadurch aus, dass sie einfach ist – und deshalb nicht Ockhams Rasiermesser zum Opfer fällt – und eine gewisse Zuverlässigkeit hat: Was immer man an Daten in sie hineinsteckt, es kommt immer etwas heraus.

Wie jedes mathematische Modell geht sie von gewissen Annahmen aus. Die erste ist nicht zu beanstanden: Der Mensch verfügt nicht bloß über eine Körpermasse, sondern auch über innere geistig-seelische Eigenschaften, die sein Verhalten bestimmen, aber nicht ohne weiteres erkennbar sind – ein Punkt für Aristoteles. Der Versuch, diese inneren Eigenschaften auf ein Minimum zu reduzieren und damit Psychologie zu betreiben, der Behaviorismus, ist jämmerlich gescheitert. Da hat Ockhams Rasiermesser mächtig ins Fleisch geschnitten.

Aber die Faktorenanalyse geht noch weiter. Diese inneren Eigenschaften (die „Faktoren“) sind nicht nur voneinander unabhängig, unterstellt sie, sondern sie addieren sich in ihren Wirkungen und bestimmen in ihrer (mit gewissen Gewichtungsfaktoren zu berechnenden) Summe das Verhalten des Menschen. Das ist eine starke Annahme, zu der sich leicht Gegenbeispiele finden lassen.

So gesehen ist die Faktorenanalyse nichts weiter als ein erster Versuch eines mathematischen Modells, wenn einem wirklich nichts Besseres einfällt. Damit hat sie wiederum ihre Berechtigung; denn bessere, realitätsnähere, vorhersagestärkere Modelle wollen einem nicht einfallen. Lewin selbst hat versucht, die Seele des Menschen mit Mitteln der modernen Topologie zu erfassen, ist aber über eine bloße Beschreibung nicht hinausgekommen.

Was machen moderne Psycholog:innen? Na ja, Statistik. Sie finden, dass gewisse Eigenschaften des Menschen gaußglockenmäßig normalverteilt sind (wenn sie es nicht sind, ist es erklärungsbedürftig). Und schon gibt es „Normales“ (sagen wir Mittelwert plus/minus zwei Standardabweichungen) und „Normabweichendes“, und die Psycholog:innen müssen höllisch aufpassen, nicht in den alten Aristoteles zu verfallen, indem sie das Normale für gesund und das Unnormale für krankhaft erklären.

Kleine philosophische Schlussbemerkung. Die Physiker:innen haben sich Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts von dem Anspruch verabschiedet, „letzte Ursachen“ der physikalischen Ereignisse zu finden. Die Ursachen, die sie fanden, wurden nämlich so abstrakt, dass man keine persönliche Beziehung zu ihnen entwickeln konnte. Die Schrödingergleichung beschreibt die seltsamen Ereignisse der Quantenmechanik perfekt, aber irgendwie mag man sie nicht als letzte Ursache gelten lassen. Also ist das Erfolgskriterium der Physik: zukünftige Ereignisse vorhersagen.

Das übertragen auf die Psychologie würde bedeuten: Was man sich unter den Faktoren vorstellt, die aus der Faktorenanalyse herauskommen, ist letztlich belanglos. Man darf gerne an Drehknöpfchen auf einem Armaturenbrett denken. Die sind auf einen gewissen Wert eingestellt, und die Verdrahtung hinter den Knöpfchen macht aus diesen Werten irgendwie das Verhalten des Menschen. Kennt man die Einstellungen, kann man das Verhalten vorhersagen – so die Vorstellung. In der Praxis bleibt wegen der allgemeinen Unschärfe von der Vorhersagbarkeit nicht allzu viel übrig.

Nach der Physik kommt die Technik. Das ist die Kunst, die Knöpfchen so einzustellen, dass ein erwünschtes Ergebnis herauskommt. In der Psychologie entspräche das der Kunst, das Verhalten des Menschen in erwünschte Bahnen zu lenken, indem man – auf welche Weise auch immer – an den geeigneten Knöpfchen dreht. So hätten das die Leute aus der Werbung vielleicht gerne; aber das wäre menschenverachtende Manipulation. Nein; das Ziel sollte sein, dem Menschen dabei behilflich zu sein, an den eigenen Knöpfchen zu drehen.

An dieser Stelle wird es richtig schwierig mit der mathematischen Modellbildung.

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