Wozu die unsichtbaren Löcher stopfen?
Christoph Pöppe
Über die Vollständigkeit der reellen Zahlen und anderer Objekte
Wenn man es genau nimmt, tragen die reellen Zahlen ihren Namen nur zur Hälfte zu Recht. Die eine Richtung geht noch: Wenn etwas in der Realität passiert, dann gibt es ein Ensemble von reellen Zahlen, das dieses Ereignis beschreibt. Zumindest in der Theorie; wie weit die Physiker beim Messen diesem Idealzustand nahekommen, ist eine andere Frage.
Aber in der anderen Richtung sieht es schlecht aus. Irgendwie ist der Mantel der reellen Zahlen viel zu weit für die Realität. Selbst in der Theorie ist es sinnlos, die Position eines Objekts genauer anzugeben als auf eine Planck-Länge, das sind ungefähr 1,6 x 10–35 Meter. Das ist zwar sehr klein, aber um die Position eines, sagen wir, Elementarteilchens auf einem metergroßen Experimentiertisch zu beschreiben, genügen ein paar Dezimalzahlen mit 35 Stellen. Und wenn es irgendwo im beobachtbaren Universum sein soll, mit seinem geschätzten Radius von 45 Milliarden Lichtjahren oder auch 2,3 x 1026 Metern, dann braucht man halt 62 Stellen oder etwas mehr, um auf der sicheren Seite zu sein.
Tun wir noch reichlich Stellen hinzu, um uns gegen die unvermeidlichen Rundungsfehler beim Rechnen abzusichern, und noch ein paar extra, damit uns auch für irgendwelche wilden Multiversen oder die nächste fantastische Stringtheorie ausreichend Beschreibungsmaterial zur Verfügung steht: Es bleibt für alle praktischen Zwecke bei einer Stellenzahl in den niedrigen Hundertern. Jedenfalls besteht kein ernsthafter Bedarf an unendlich vielen gültigen Dezimalstellen. Die sind es aber, die uns die großen theoretischen Schwierigkeiten mit den reellen Zahlen einbrocken. Sie sind nicht nur weitaus unendlicher als die natürlichen Zahlen („überabzählbar“), die weitaus meisten unter ihnen sind im Wortsinn unaussprechlich.
Warum tun sich die Mathematiker das an? Weil alles andere noch viel komplizierter wäre. Schon der Versuch, es sich anders vorzustellen, endet im Absurden. Ein internationales Gremium legt nach sorgfältiger Anhörung aller Beteiligten ein überschaubares Sortiment an Zahlen fest, die als reell gelten sollen? Und jeder, der ein neues Ergebnis findet, muss sich erst vergewissern, ob die von ihm errechnete Zahl in der Liste steht? Und alle paar Jahre muss die Liste im Licht neuer Erkenntnisse revidiert werden?
Nein. Man folgt dem allgemeinen Prinzip: Wenn man etwas unzweideutig definieren kann und diese Definition nicht auf Widersprüche führt, dann gibt es das. Die Gegenstände der Mathematik sind sowieso nicht der Natur entnommen (sondern allerhöchstens von der Natur inspiriert wie die „natürlichen“ Zahlen); also genießt eine komplizierte Zahl wie \(\sqrt 2\) dasselbe Existenzrecht wie die natürliche Zahl 2, über deren Existenz sich kaum jemand ernsthafte Gedanken macht.
Wie geht das mit dem Definieren? Üblicherweise über einen Grenzwertprozess. Wir kennen bisher nur die rationalen Zahlen. Die Zahl \(\sqrt 2\) zählt nicht dazu; aber wir finden eine Folge rationaler Zahlen, deren Grenzwert sie ist. Was heißt Grenzwert? Das ist die eindeutig bestimmte Zahl mit der Eigenschaft, dass ihre Differenz zu den Gliedern der Folge auf die Dauer kleiner wird als jedes positive Epsilon. Aber Vorsicht! Noch gibt es die Zahl nicht, sie soll ja erst definiert werden, also können wir auch ihre Differenz zu irgendwelchen Folgengliedern noch nicht bilden. Damit unsere Definition nicht aus Versehen zirkulär wird, müssen wir von einem Grenzwert reden, ohne das Wort Grenzwert in den Mund zu nehmen.
Das gelingt mit einem speziellen Konzept. Eine Folge heißt „Cauchy-Folge“, wenn der Abstand zweier Folgenglieder auf die Dauer kleiner wird als jedes positive Epsilon.
Für eine richtig saubere Definition genügt diese schwammige Ausdrucksweise nicht. Eine Lehrbuchformulierung lautet: Eine Folge \(a_n\) heißt Cauchy-Folge, wenn es für alle \(\epsilon >0 \) eine natürliche Zahl \(n_0\) gibt mit der Eigenschaft, dass für alle \(m,n>n_0\) gilt \(|a_m-a_n|< \epsilon \). Das kann man noch kürzer und ohne Wörter der Umgangssprache ausdrücken, indem man für die Formulierungen „für alle“ und „es gibt“ spezielle Symbole einführt. Dann gibt es gar keine Interpretationsfreiheiten mehr. Die formale Definition ist zugleich eine Anweisung, wie man zu beweisen hat, dass eine spezielle Folge eine Cauchy-Folge ist. Für einen beweisführenden Computer ist das gerade richtig. Leider muss ein gewöhnlicher Mensch über einer solchen Formulierung immer etwas länger brüten, bis er weiß, was gemeint ist.
Eine Cauchy-Folge ist also eine Folge, die einen Grenzwert haben könnte: Wenn alle ihre Glieder sich dicht beieinander tummeln, dann liegt es nahe zu glauben, dass es die eine Zahl gibt, der sie alle beliebig nahe kommen. Also deklarieren wir einfach, dass es sie gibt, und vergewissern uns, dass diese Deklaration nicht auf Widersprüche führt – was in der Regel kein Problem ist. Nur muss unsere neu definierte Zahl nicht die Eigenschaften der Folgenglieder haben, aus denen sie sozusagen hervorgegangen ist. Der Grenzwert einer Folge rationaler Zahlen – jetzt dürfen wir darüber reden – ist nicht unbedingt eine rationale Zahl. Immerhin kann man Rechenregeln für irrationale Zahlen festlegen – ein erheblicher Schreibaufwand, weil man mit den Folgen hantieren muss, durch welche die beteiligten Zahlen definiert sind, und sich vergewissern muss, dass alles seine Richtigkeit hat. Aber das Ergebnis ist ohne unangenehme Überraschungen.
Die Menge der reellen Zahlen ist also „vollständig“, das heißt, jede Cauchy-Folge aus Elementen dieser Menge hat einen Grenzwert, der ebenfalls in der Menge liegt. Damit sind alle Löcher auf der Zahlengeraden gestopft. Ein etwas merkwürdiges Ergebnis, denn als man noch nichts als die rationalen Zahlen hatte, war die Zahlengerade auch schon gut gefüllt, und von Löchern war nichts zu sehen: Zwischen zwei rationalen Zahlen, einerlei wie dicht sie benachbart sind, liegen stets noch unendlich viele weitere rationale Zahlen. Vielleicht ist das Stopfen unsichtbarer Löcher nicht jedermanns Sache; für die Mathematik ist es unentbehrlich.
Richtig interessant wird das ganze Gerede von der Vollständigkeit erst bei Objekten, die uns weniger vertraut sind als die reellen Zahlen. Funktionen zum Beispiel. Zu den Lieblingsbeschäftigungen der Mathematiker zählt das Lösen von Gleichungen – genauer: Differenzialgleichungen –, bei denen die Unbekannten nicht bloß Zahlen, sondern Funktionen sind. Und mit Ausnahme der einfachsten Sonderfälle gibt es kein Lösungsrezept nach dem Muster „Forme die Gleichung so lange um, bis die Unbekannte allein auf der linken Seite steht“.
Vielmehr findet man typischerweise mit Mühe eine Funktion, die die Gleichung ungefähr löst. Die verwendet man zum Nachbessern, sucht also eine Funktion, die die Gleichung etwas besser löst, und so weiter. Das ergibt eine Folge von Näherungslösungen. Jetzt müsste man nur noch den Grenzwert bilden und hätte die Lösung – wenn es diesen Grenzwert denn gäbe. Und wenn man von so etwas wie einem Grenzwert überhaupt reden dürfte. Denn: Grenzwert ist, wenn der Abstand zwischen den Folgengliedern und dem Grenzwert gegen null geht. Wenn die Folgenglieder Funktionen sind: Was ist der Abstand zwischen zwei Funktionen? Und wenn wir das wissen und es uns tatsächlich gelingt, eine Cauchy-Folge von Funktionen herzustellen: Gibt es einen Grenzwert? Das heißt, ist die Menge der Funktionen vollständig? Und welche Eigenschaften erbt der Grenzwert, so wir ihn denn definieren können, von seinen Folgengliedern?
Ganz so locker wie bei den reellen Zahlen sind diese Fragen nicht zu beantworten. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, einen Abstand zwischen zwei Funktionen zu definieren; je nach der konkreten Fragestellung ist die eine oder die andere sinnvoll. Entweder schaut man nach der Stelle, an der sich die beiden Funktionen am meisten unterscheiden, und nimmt diese Differenz – deren Betrag, um genau zu sein – als Maß für den Abstand. Oder man ist bereit, einzelne „Ausreißer“ zu tolerieren, wenn sie sich auf einen kleinen Bereich beschränken und die Funktionen einander im Übrigen sehr nahe sind. Bei Differenzialgleichungen geht es nicht nur um die Funktion selbst, sondern auch um deren Ableitungen; daher legt man gelegentlich Wert darauf, dass nicht nur die Werte der Funktion, sondern auch die der Ableitung nahe beieinander liegen.
Üblicherweise spricht man bei einer Menge von Objekten, die irgendeine Beziehung, zum Beispiel einen Abstand, zueinander haben, von einem „Raum“. Das legt die Vorstellung nahe, dass man sich innerhalb des Raums in verschiedene Richtungen („Dimensionen“) bewegen kann. Das ist zwar nicht zwingend – auch die reellen Zahlen sind ein Raum –, stimmt aber meistens. Funktionenräume haben sogar, wie unser dreidimensionaler Raum, Eigenschaften, die man von Vektoren kennt: Man kann die Funktionen des Raums addieren und mit reellen Konstanten multiplizieren, und das Ergebnis ist wieder ein Element des Raums. Insbesondere gibt es ein Nullelement, so etwas wie den Ursprung des Koordinatensystems. Nur haben Funktionenräume im Allgemeinen unendlich viele Dimensionen.
Wenn nun die Abstandsfunktion sich mit der Vektorraumstruktur des Funktionenraums verträgt, nennt man sie eine „Norm“ und den mit einer Norm ausgestatteten Raum einen „normierten Raum“. Vollständige normierte Räume genießen bei den Fachleuten ein so intensives Interesse, dass sich eine Bezeichnung für sie eingebürgert hat: „Banachraum“, nach dem polnischen Mathematiker Stefan Banach (1892 – 1945), der die Analysis auf Funktionenräumen („Funktionalanalysis“) maßgeblich begründet hat. Unzählige mathematische Arbeiten beginnen mit dem Satz: „Sei X ein Banachraum …“
Das mathematische Forschungsinstitut Oberwolfach im Schwarzwald ist für Mathematiker eine gute – für irdische Bedingungen sogar hervorragende – Näherung an das Paradies. Wenn nicht gerade Pandemie herrscht, findet dort jede Woche eine Tagung zu einem Spezialgebiet der Mathematik statt. Ungefähr 40 Leute können, aller Sorgen um alltägliche Dinge enthoben, Tag und Nacht mit ihresgleichen über Mathematik diskutieren. Das halten auch Mathematiker nicht ohne Unterbrechung aus, und deswegen gehört zum Oberwolfacher Ritual die geführte Wanderung am Mittwochnachmittag in die idyllische Umgebung. Das ist der Kontext für die folgende Geschichte, die sich durchaus in der Realität abgespielt haben könnte: Bei der Mittwochsexkursion kommt ein Teilnehmer gedankenverloren vom Weg ab, findet nach stundenlangem Umherirren einen abgelegenen Bauernhof und bittet dort um Hilfe. Der Bauer hat das schon mehrfach erlebt und ruft im Forschungsinstitut an. Während man auf das Auto wartet, das den Verirrten heimholen soll, fragt ihn der Bauer: „Was machen Sie eigentlich den ganzen Tag im Forschungsinstitut?“ Da blüht der bis dahin etwas bedröppelte Wissenschaftler auf: „Das kann ich Ihnen sagen! Sei X ein Banachraum …“
Jetzt haben wir eine elementare Ausrüstung beisammen, um uns in irgendwelchen Funktionenräumen auf die Wanderschaft zu begeben. Aber das Wandern ist gewöhnungsbedürftig! Jeder Punkt dieser abstrakten Landschaft ist eine Funktion, also nicht bloß drei Koordinaten, sondern ein ziemlich komplexes Objekt.
Wenn wir uns in einem Banachraum herumtreiben, kann man die Norm einer Funktion oder ihre Abweichung von der Idealgestalt als eine Höhe über dem Meeresspiegel verstehen. Dann gibt es Auf- und Abstiege, und vor allem geht es darum, ans Meer zu kommen. Nur: Aussicht gibt es keine! Wegweiser sowieso nicht. Allenfalls von der nächsten Umgebung seines aktuellen Standorts gewinnt man eine nebelhafte Vorstellung.
Die Vollständigkeit unseres Banachraums garantiert uns nur, dass wir auf unserem Weg zum Ziel nicht in ein Loch fallen. Aber wie kommen wir zum Ziel? Das ist eine Wissenschaft für sich. Demnächst will ich Ihnen einen solchen Weg zeigen. Das Ziel ist die Funktion, die den Anspruch des Laplace’schen Dämons auf Allwissenheit rechtfertigt.
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